Brunshaupten
Roman

Hanna, ihre Töchter Sandy und Trixi sowie ihre fünf volljährigen Enkelkinder erfahren spät, dass ihr Schwiegersohn weit mehr Probleme hat als das Sanddornsterben auf dem Obsthof der Familie in Kühlungsborn. Die Existenz ist bedroht und alle packen mit an. Generationen treffen aufeinander in einer Landschaft, deren Schönheit zum Innehalten einlädt.
Es ist eine Familiengeschichte über sechs Monate mit den kleineren und größeren Gefühlen und Erlebnissen in einer ländlichen, aber dem Tourismus zugewandten Region.
»Es ist der Wandel, nicht der Wechsel.«
Gebundenes Buch:
456 Seiten. Fester Einband, Überzug: Softtouch, runder Rücken, Fadenheftung, Leseband; Papier: Cremeweiß.
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„Es stört mich nicht, wenn du brennst.“

Autor: Marc Krautwedel, Kühlungsborn
„Wichtig ist, was auf den Tisch kommt“ – ist nur eine von etlichen Weisheiten der Menschen im Roman, die redlich bemüht sind, feste Punkte in Zeiten der Veränderung nicht aus den Augen zu verlieren. Sechs Monate einer Familie und ihren Bekannten, die mir ans Herz gewachsen sind – ohne wirklich jeden/jede von ihnen fraglos umarmen zu wollen. – Ach, was soll’s?
Leseprobe
73
„Dreiundsiebzig. Komm, Lenni!“
Hundekalt beißt der Wind mit Wellen feinster Nadelstiche in die sich ihm feilbietenden, nackten und dürftig behaarten Oberflächen zweier Persönlichkeiten, die in Anmut und Mentalität verschiedener nicht sein könnten, deren selbstverständliches Bestreben der wesenseigenen Annäherung von gegenseitiger Achtung gestützt ist.
„Denk nicht daran, draußen zu bleiben“, sie tätschelt ihn. „Du mexikanische Fledermaus hast zu dünnes Fell.“
Die Mittagssonne dringt bodentief in den zu dieser Jahreszeit unbelaubten Stadtwald vom Ostseebad Kühlungsborn, lässt den über dem Dickicht liegenden, seidenweichen Nebel erstrahlen und die hochgewachsenen, betagten Buchen und Ahorne erscheinen bei in Watte verstecktem Unterwuchs wie einzelne, in nobler Zurückhaltung schweigende Zeugen der Zeit. Ein aufgeforstetes Stück Kulturlandschaft, von Achsen durchzogen, dessen Beschränktheit für diejenigen, die nicht von seinen Beständen leben, in nichts anderem auffällig ist als in dem Willen der Besucher, ihn beizeiten wieder zu verlassen, um sich neuen Umgebungen zuzuwenden.
Lennis Frauchen kommt mit ihm von einigen der vor über hundert Jahren in den Wald geschlagenen, angelegten ›Spaziergänge‹. Die Wege waren genehmigt, die Momente außerhalb des Badeerlebnisses der Erholung und Erbauung suchenden Urlauber auf das Angenehmste zu bereichern. Auf dem Rückweg von einer anderen Mission sind Lenni und Helga auf den letzten Metern des Gehwegs bis zu der, gleich dem Zaun wegen des Hundes mit grün ummanteltem Kaninchendraht durchschlupfsicher verkleideten, flachen Gartentür des Vorgartens ihres Hauses in der Strandstraße. Sie bewegt sich achtsam bis zum Ziel, dem höchsten Punkt der Straße, gegenüber dem ehemaligen Kaiserliches Postamt. Schnee- und Eisplacken, die Schrecksekunden auslösen, sind seit zwei Monaten Geschichte. Die großformatigen Gehwegplatten bleiben frei von Hindernissen. Es sind ihre eigenen Lageeigenschaften, die mancherorts die Aufmerksamkeit fordern. Die prachtvollen, mittelgroßen Straßenbäume, die die uralten, radikal rasierten und in einigen Wochen erneut frisch austreibenden Linden ergänzen, verleihen dem Gehweg erhöhte Ausdruckskraft, indem sie über ihren klimatisch-ästhetischen Beitrag und das Schattenspenden hinaus eine neue Facette der Teilnahme zeigen. Mit ihren Wurzeln positionieren sie die Platten, die in ihre Fänge geraten, im Abbild ihrer Vitalität. Minimale Abweichungen animieren die Passanten, sich nicht schlurfend fortzubewegen. Die ältliche Dame Ende achtzig zwingt sich täglich bei jedem Schritt der risikogemäßen Würdigung der einzelnen Platten.
„Moin Helga. Dreiundsiebzig? Du zählst? Ist ein büschn früh“, ruft eine zänkische Stimme aus einem cabrioartigen, roten Leichtfahrzeug geringer Größe und Sitzhöhe mit dünner Offroadbereifung sowie unbedachter, armlanger, in Holz eingefasster Ladefläche. Lautlos, folgerichtig unbemerkt, kommt es in der Einfahrt zum Stehen. Darin sitzt eine abholend lachende Frau, deren Gesicht und Habitus mit einem von Feuer flankierten Blick frischer sind, als es das Geburtsdatum auf ihrem Personalausweis zum Ausdruck bringt.
Die Gerufene bleibt weiterhin gebeugt, dem Tier zugewandt, der Kopf mit dem kurzen grauen Haar im schwer auf den Schultern liegenden, dunkelblauen Filzmantel verborgen.
„Früh? Für wen? Bist du aus dem Bett gefallen? Oder sprichst du von der Jahreszeit?“
„Was denkst du?“
„Ich zähle aus Gewohnheit. Langes Anstehen an der Kasse im Supermarkt ist nicht mehr meine Sache. Die KONSUM-Zeiten sind vorbei. Beim Warten rennen mir die letzten wachen Momente davon“, murmelt sie selbsterklärend in Richtung ihres vor ihr sitzenden Hundes, der, entgegen seiner üblichen Praxis nicht bellt, in Erregung herumläuft und den Eindringling – Freund oder fremd – inspiziert. „Warum schreist du? Ich bin alt, nicht taub“, zickt sie, direkt adressiert, in gleicher, pulsarmer Streitbarkeit. Sie richtet sich auf, dreht sich um und sieht die Person, die auf dem kleingebauten Gefährt in ihrer seit Jahren ungenutzten und moosüberwucherten Einfahrt steht, mit dem Ausdruck erhabener Missbilligung an.
„Moin Hanna. Was willst du mit dem französischen Spielzeug in der Stadt, im Winter, weit weg von zuhause?“
„Für die sechs Kilometer ist es nicht nötig, mit Jean an die Steckdose zu fahren. Ich käme bis nach Rostock und zurück.“
„Das ist kein Hund auf der Gassirunde zum Entladen. Da haben wir es wieder. Welche Oma fährt mit einer Seifenkiste durch die Gegend, die aus dem Kinderland oder vom Golfplatz ausgebüxt ist, spricht von dem Teil, als sei es ein Köter, und benennt es nach einem Propheten? In Französisch? Du warst immer anders. Ich verstehe das nicht. Wir sind von den ganz alten Familien, die schon da waren, bevor die ersten Urlauber herzogen. Sag Trixi, dass ihr Opa ein Held war – und breitschultrig. Bei ihr merkt man nichts davon“, meckert Helga Finow, die Augen gerichtet auf Hanna Glowatz, bewegt sich mit dem Verschleiß der Jahre in den Knochen auf sie zu und schlägt mit ihrem Gehstock wiederholt zeigend gegen einen Reifen des Fahrzeugs.
Die angefrotzelte fünffache Großmutter stutzt kurz, lacht anerkennend, schüttelt den Kopf mit ihrem grau-brünetten Haar, das deutlich über Schulterlänge im Einzelnen dünn, in Gesamtheit füllig unter der gewachsten Baseball-Kappe hervorquillt, zeigt auf den Stock und weist mit der sich öffnenden Hand präsentierend auf die bissfest angreifende, in letzter Zeit an Rüstigkeit nachlassende Tante einer ihrer ehemaligen Schulfreundinnen. Sie kennen sich seit Hannas Kindheit und sind einander vertraut, gar zugeneigt wie Geschwister, begleitet von einer ungeahnten und sorgsam kaschierten Altersmilde. Dem Zuspruch vorangestellt liegen formale Elemente, die ausreichen, jemanden, der die Region nicht kennt, zu düpieren oder zu verschrecken, was die beiden nicht bewegen würde, ihren Stil zu wechseln. Nicht zu kommentieren ist ein Zugeständnis, das den Eindruck norddeutscher Art der fehlenden Beredsamkeit erweckt. Der Altersunterschied zwischen Helga und Hanna spielt keine Rolle. Jenseits der sechzig Jahre relativieren sich Differenzen zu Banalitäten und der Lebensfortschritt ist an der jeweiligen Tagesform auszumachen. Das betraf bisher zumeist die körperlichen Gebrechen. Zunehmend beeinträchtigen kleinere kognitive Aussetzer die Gespräche, wobei es zahlreiche inhaltlich versprengte Schlaglöcher mehr erfordert, um einer hinreichend tragfähigen Kommunikation hinderlich zu sein. Helgas Verschleißvorsprung zeigt sich an manchen Tagen deutlich, was Hanna nicht zu einer allgemeinen Beißhemmung veranlasst.
„Ach, Uroma hat von Kraft geträumt, weil du den Winter ohne Beinbruch überstanden hast? Verständlich. Und lass Jean in Ruhe. Johannes ist der Schutzpatron der Bauern. Oder forderst du seinen nachgeahmten Kühlergrill, Salome?“
„Tüddelkram. Hast du dir vorgenommen, mich zu nerven? Mach nur weiter, bald bin ich wech; eingegangen wie euer Gestrüpp. – Ihr lebt vom Sanddorn. Nicht dass ihr alle bei mir einzieht, weil euch die Luft am Ende ausgeht und dein Schwiegersohn den Hof aufs Spiel setzt, nochmal.“
„Ach, sagt man das? Worauf wartet ihr? Gibt es nichts zu tratschen? Wie kommst du darauf, dass Gerd jemals den Hof gefährdet hätte? Blödsinn. Eure selbstlose Sorge ist Langeweile. Ist wenig los außerhalb der Saison. Ihr seid Restbestände einheimischer Märchenerzähler. Nur über deine kalte, erstarrte Leiche ziehen wir bei dir ein.“
„Mein Reden. Du schreckst mich nicht. Vergiss es, ich bleibe. Frauen sind zäher. Sie jammern nicht, sie streiten. Das sind keine Märchen. Du bist genauso hier zur Welt gekommen.“ Ihr rundes, vom eisigen Wind errötetes Gesicht fällt in dem Moment an den Wangen ein, als sie die Augenbrauen zusammenzieht und den Mund einen Spalt öffnet. Kleinste Nebelwolken vor ihren Lippen zeugen von einer flachen, schwerfälligen Atmung, die vor dem Rhythmuswechsel stockt. „Hanna, ich sabbel nicht. Das ist ein echtes Problem. Ihr müsst dringend was unternehmen. Eure Pflanzungen sind trocken. Die brennen im Sommer wie Zunder. Da ist kein Tropfen Saft mehr im Geäst. Euer Gestrüpp steht wertlos rum und fackelt uns am Ende den Wald mit ab.“
Sanddorn ist eines der Reizthemen von Helga. Ihre Familie hatte seit den späten Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts im Zuge der Sortenoptimierung in einer landwirtschaftlichen Produktionsgemeinschaft am Erfolg der goldenen Beeren mitgewirkt. Die Direktiven kamen aus Berlin; die Hochleistungssorten ebenso.
„Kleinkram. Ich erledige das nebenbei“, antwortet Hanna monoton. „Wozu die Fachleute? Warum Panik? Existenzen? Egal, ich mach das. Ernsthaft, Helga, kein Grund zur Sorge. Wir haben wegen des miserablen Geschäfts bei fehlenden Touristen in den Corona-Jahren einen hohen Lagerbestand.“
„Was auf den Tisch kommt, ist entscheidend, nicht wie es ankommt oder verpackt ist. Wenn eure Speisekammer leer ist, gibt es nichts zu essen. Da ist egal, wie sie gekühlt ist. Ihr müsst was tun. Das ist nicht wie früher. Ihr habt keine sieben Jahre, einen bestellten Trabbi zusammenzusparen. Davon zwei aufs Rauchen und auf Obst zu verzichten bringt euch nicht aus dem Schlamassel. Das geht nicht irgendwie weiter. Ihr könntet den Hof verlieren, was man so sagt.“
„Ihr habt keine Ahnung. Die Ware stapelt sich bis zur Decke, in allen haltbaren Varianten. Vom Öl, Seife bis abgefülltem Nektar und Trockenkonzentrat. Überstanden haben wir es trotz der geringen Verkäufe.“ Hanna nickt abschließend und zieht das Bein, das bereits außerhalb des türlosen Gefährtes war, zurück in den Fußraum. Sie trägt eine für ihr Alter unziemlich moderne Jeans und die schattenmorellenroten Arbeitsschuhe, die wie Springerstiefel aussehen und neben Gas- und Bremspedal glänzen.
„Dein Wort. Und nu? Was habt ihr vor?“
„Die Urlauber kommen wieder zurück. Produkte aus Sanddorn sind gefragt bei Gästen. Mit dem, was verarbeitet ist, stopfen wir die Löcher der kommenden Ernteausfälle. Drei, vier Jahre sind Zeit, mit zurückgehenden Erträgen über die Runden zu kommen.“ Sie streckt sich ungewohnt raumgreifend und nickt zustimmend ihrer eigenen Ausführung.
„Wenn das mal reicht.“
„Helga, ich bin ja auch noch da.“ Hanna sieht munter auffordernd zu ihrer Freundin. „Ich fahr ans Meer; auf einen Cappuccino. Springt rein, ihr beiden Langweiler.“
„Nee, lass gut sein. Mir ist kalt, egal was ich anhabe. Das ist das Wetter zum Eindrömeln und Fernsehen.“
„Wem sagst du das? Ich bin dieser Tage genauso froh, wenn ich wieder im Haus bin.“
„Du hast die falsche Karre.“
„Gemächlich und Kurzstrecke. Andere fahren Rad. Mit dem Leichtgewicht bin ich eine geringere Gefahr und es hält mich frisch, ohne zu belasten. Gestern Abend stand bei mir genauso das Faulenzen auf dem Zettel. Es lief ein richtig netter Film. Darauf muss man erst mal kommen.“
„Worum ging es?“
„Amerikanisch. Letzte Wünsche von zwei alten Männern, die nicht mehr lange haben und die …“
„Wunschzettel. Die Liste, die sie abhaken. Kenn ich. Der ist freundlich. Wunderbare Schauspieler.“ Helga hält inne, sieht zum Stadtwald und betrachtet einzelne der prachtvollen, sie an Lenzen übertreffenden, derzeit blattlosen Bäume. „Die beiden Knacker hatten zumindest eine Ahnung, was ihnen an Zeit bleiben würde, um auf den Putz zu hauen. Obwohl – ich würde es nicht wissen wollen. Schnell und überraschend, am besten im Schlaf wäre mir am liebsten, wenn man sich das aussuchen könnte. Es passiert und kommt ungelegen. Wie Schwangerschaft. Es passt nie. Beim Sterben ist es besser als andersrum. Wer darauf wartet, ist bis auf die wenigen wissend und erhaben Lächelnden, die einem schon zu Lebzeiten auf den Keks gehen, gekniffen. Da scheint das Leid in Körper und Geist zu heftig zum Überleben zu sein. Schiete ist keine Geburtstagstorte und das Leben den ganzen Tag über alles andere als ein Wunschkonzert.“
„Helga, ein Spiel, weil du gerne von deinem Ableben redest. Angenommen, du wüsstest, dass du die letzten zwei Wochen auf der Uhr hättest, bis unverhandelbar Schluss wäre; welche drei realistisch erfüllbaren Träume würdest du dir vor dem Abgang erfüllen wollen?“
„Wie die beiden Alten? Ohne Auferstehung von toten Ehemännern und dem strahlendweiß bezahnten Sinnen nach Weltfrieden, wie Miss Amerika?“
„Ja, du willst etwas und es ist umsetzbar. Von mir aus auch ein Flug durch den Weltraum. Geht mittlerweile alles. Hauptsache, das Wetter spielt beim Start mit und es ist genug Atemluft an Bord. Drei Wünsche hatte ich gestern, als ich den Film sah, ruckzuck zusammen, ohne lange zu grübeln. Also, schieß los. Ab ins All?“
„Keine Ahnung. Ich würde meine Familie gern in der Nähe haben. Das tröstet, die zu sehen, die man liebt, – dass es weitergeht und nicht umsonst war. Sie kämen in jedem Fall ans Sterbebett, wenn ich mich nicht plötzlich vom Acker mache“, raunt sie und ein Schmunzeln durchfährt ihre Lippen. Sie wendet sich ab und sieht in eine der unbelaubten Baumkronen an der Straße. „Mein zweiter Wunsch wäre: Es sollte dort Frühling sein – irgendwo, wo es warm ist, frisch riecht und blüht. Sterben ist düster genug.“
„Hast du nichts, was du dir wünschen würdest, das nicht direkt mit deinem Tod zu tun hat?“
„Also …“
„Nur zu. Sag es.“
„Ich würde gern einmal einen Koalabären und einen Pinguin streicheln. Das sind zwei Wünsche.“
„Gilt trotzdem. – Pinguin? Wie fasst der sich an?“
„Das ist es ja. Ich vermute, wie ein strammer Maulwurf, aber ich lass mich gern überraschen und eines Besseren belehren, wenn ich einen treffe.“ Sie zeigt andeutungsweise ein Schmunzeln. „Und was sind deine letzten Wünsche, die du dir beim Film ausgedacht hast?“
„Einer ist ein Kindheitswunsch. Ich wollte, seit ich ein kleines Mädchen war und eigentlich blieb, immer einmal in einer italienischen Stadt mit einem roten Sommerkleid auf dem Kopfsteinpflaster laufen.“
„Die Grenze ist auf. Worauf wartest du? Frischer wirst selbst du nicht. Einfach machen. Und der Nächste?“
„Ich wäre gern alleiniger Besucher in einer gotischen Kirche, am liebsten eine Kathedrale, und jemand spielt Johann Sebastian Bach auf der Orgel.“
„Nur für dich in der Halle, wo mehr als tausend Leute Platz finden? Warum? Depressionen oder wichtigtuend?“
„Mir geht es nicht um die Exklusivität, sondern darum, dass ich allein in dem Raum bin. Ohne menschliche Regungen aller Art. Kirchenräume sind komplett anders, wenn sie nicht belatschert von der Unruhe des Alltags sind.“
„Und was soll gespielt werden? Hauptsache Bach?“
„Das ist mir zu persönlich, das möchte ich nicht sagen.“
„In Ordnung, einer wird es wissen und der Kerl an der Orgel wird’s von dir erfahren müssen. Und dein Letzter?“
„Ich müsste mir wieder einen Hund holen, was Blödsinn ist, wenn es ums Sterben geht, aber für den Wunsch brauche ich einen eigenen, am besten einen riesigen Hirtenhund. Mit dem würde ich gern am Meer an einem gedeckten Tisch sitzen – er sitzt natürlich daneben – und wir beide verspeisen gemeinsam eine gebratene Gans.“
„Völlig anders als bei mir. Zumindest zwei deiner Wünsche, beim Orgelkonzert bin ich mir nicht sicher, haben mehr mit dem Leben als mit dem Ableben zu tun. Außer dem Köter ist bei dir keiner aus der Familie dabei, aber das ist alles machbar. Dein Bruder Peter ist schließlich …“
„Ich weiß. Es ist zu persönlich. Das Bild muss passen.“
„Was kann einem näher gehen als die Familie?“
„Moment, das wäre eine andere Frage und wir sprechen ausschließlich von mir, nicht von meiner Opferbereitschaft für die, die ich liebe, denjenigen, die zu ihnen gehören oder gar von dir.“
„Hauptsache, du glaubst nicht, sterben zu können, wenn du mit der Liste durch bist. Es ist kein Pflichtenheft mit nachfolgender Erlösung. Aber seltsam ist es schon. Wie ein Leben. – Kleidchen, gedeckter Tisch und Abgesang. Unter Menschen, mit Vertrauten, am Ende mit dir allein – oder eben gerade nicht, bevor du mich wieder korrigierst. – Mach es einfach. Hol dir ein Ticket, donner nach Italien, kauf dir ein Kleid und auf dem Rückweg holst du dir einen Hund und ihr geht essen. Eine Orgel wirst du schon finden.“
„Und du? Wie willst du es in die Hand nehmen?“
„Um die ersten beiden Wünsche geht es nicht, solange ich die Nachricht nicht kriege. Und Pinguine können warten. Die stehen für nichts.“
„Ich finde, die sagen eine Menge über dich. Wie viele von denen, die sutsche auf die hundert Jahre marschieren, kennst du, die sich fragen, wie sich ein fettiger Vogel vom Südpol anfühlt?“
„Keine. Da kann das Tier nichts für. Es liegt daran, dass die anderen Alten schon wech sind. – Wie gesagt, heute drömel ich mich ein. Und später sind die Illustrierte und ein Rätselheft dran. Am Nachmittag, auf unserer Runde“, sie sieht zu Lenni, der mit zartem Wedeln mit hochstehender, dürrer Rute am Gespräch teilnimmt, „einen Irish Coffee und einen Brownie am Lindenpark.“
„Du und ausländisches Essen?“
„Brownies dort und Soljanka woanders. Es gibt nichts mehr von Bestand. Fischbrötchen und Eiskugeln werden auch dieses Jahr wieder die Messlatten und Zankäpfel des Sommers. Das bringen die dann im Fernsehen ständig, genauso wie wütende Anwohner. – Die gibt es bald auch bei uns. – Nicht, dass wir einen Grund hätten.“
„Das liegt an der Inflation, Kosten für die Umstellung auf Klimaschutz, dagegen günstige Flugkosten …“
„Corona, Kriege, Rüstungskosten, faule Kinder. – Papperlapapp. Die Zeiger drehen sich schneller. Fünf Namen von Geld habe ich in den Knochen, ohne umgezogen zu sein.“
„Du meinst Währungen.“
„Klugsch… schwätzer!“
„Klugschwätzerin bitte!“
„Du auch?“
„Ich bleibe Feministin.“
„Ihr werdet mehr.“
„Hoffentlich.“
„Dein Apfelkuchen soll sehr gut sein.“
„Sagen sie das?“
„Dass du nach alledem wieder deinen Mädchennamen trägst, ist was anderes. Dafür hat jeder, der es damals mitbekommen hatte, Verständnis. Der erste Mann hat zu kurz gelebt, der Zweite, der Säufer immer noch zu lang.“
Helga klopft von außen auf ihre Manteltasche, spürt einen Widerstand und ist sichtlich beruhigt. „Ich spreche nicht vom Portemonnaie. Wenn ich die ganzen neumodischen Zahlungsmöglichkeiten aufzählen sollte … Es ist verrückt. Das Unpersönlichste, was man sich vorstellen kann: Ein allgemeines Tauschmittel als Kulturträger. Viele wünschen sich einen Wechsel. – Sicher auf einen Reichsadler mit Ost-Lackierung.“ Sie lacht. „Deutsche Alu-Chips für die Wurstelpizza. Nee, Hanna, ich bleibe zuhause und ärgere mich bei den Nachrichten über die Greise, die glauben, die Welt regieren zu können, und Möchtegerne, denen es an allem fehlt außer an Geld und Schaulustigen.“
„Wenn du irgendetwas brauchst oder ich dich zum Arzt fahren soll, ruf an. Deine Kinder haben nicht die Zeit, sich in Serie dieselben Geschichten anzuhören.“
„Danke, nein. Doktor Paulsen wohnt gegenüber und meine Familie liebt mich, sagen sie.“
„Wir behaupten alle, dich zu lieben. Nächste Woche komme ich mit Kuchen vorbei; in Ruhe über die alten Zeiten schnacken.“
„Willst du etwa Kaffee? So fein bin ich hier nicht und Erichs Krönung ist aus. Ich habe nur Tee im Haus.“
„Klar, deinen Irish Coffee trinkst du auswärts. Lass dir was einfallen. Tschüss, Helga.“
„Hanna.“ Sie nickt mit dem Kopf zu der schlanken Endsechzigerin, die sich mit ihrer Pudelmütze im Sitz umdreht, lautlos den Wagen zurücksetzt, sich zurückwendet, winkt und die Strandstraße Richtung Ostsee fährt.
Helga sieht das gute Laune verbreitende, annähernd quer in Parklücken passende Gefährt, bis es wegen der beginnenden Einspurigkeit rechts an der Doberaner Straße mit der Vorfahrtsstraße abbiegt.
„Nicht totzukriegen“, sagt die Seniorin schwindender Rüstigkeit und schüttelt andeutend anerkennend den Kopf, der scheinbar dem ersten Bewegungsimpuls hinterher federt. Sie lächelt ein Fünkchen mit minimal ausreichender Intensität, dass sie die beteiligte Muskulatur ihres Lächelns in Bewegung wahrnimmt, was ein Wohlsein nach innen und ein erfrischtes Aussehen auslöst.
„Dreiundsiebzig“, wiederholt sie gesprochen, in Gedanken bereits woanders. „Lenni komm!“
Die von Helga Finow genannte Zahl ist eine Feststellung auf höchstem sensitiven Niveau. Es braucht Monate, um sie ganzheitlich zu begreifen, Jahre, bis die resultierenden Schlussfolgerungen in den Alltag zwanglos aufgenommen sind und Generationen der Erfahrung, um die Einflussgrößen zu bewerten, wie es weiterzugehen hat. Sie ist Zuordnung und damit Uhr, Kalender, Barometer und Pulsmesser.
Der Hund hat trotz der Kälte und obwohl er die Zahl Dreiundsiebzig nicht einordnet, gelernt, dass Eile dieser Tage nicht von Bedeutung ist. Er schnüffelt an einem Busch, den er bei einem vorherigen Ausgang markiert hatte, scharrt mit den Hinterläufen explosiv neben der Stelle im anthrazitfarbigen Sand des Beetes, in dem er steht. Er hebt den Kopf, checkt nochmals die Straße, zittert kurz von einem Kälteschauer, der seinen übersichtlichen, dünn behaarten Körper durchläuft und folgt seinem Frauchen gemächlich mit staksigen Beinen die drei Stufen mit geringer Steigung und breiten Auftritten hinein ins Haus. Der einzige Wohnsitz von Helga und Lenni liegt in der Strandstraße, ihrem Zuhause.
Das ehemalige kaiserliche Postamt, welches neben Gewerbeflächen auch Ferienwohnungen beherbergt, ist Bäderarchitektur des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts und markiert den höchsten Punkt der tausendfünfhundert Meter langen Straße. Gebaut in jenen Jahren, in denen aus zwei Dörfern konkurrierende Badeorte wurden, und das diesseits des heutigen Stadtwaldes einen auskömmlich genährten Steinwurf entfernt liegende Brunshaupten eine Promenade, die Strandstraße, als neuen Kern unter dem Leitbild eines Seebades erhalten hatte.
Durch die geöffnete Tür strömt dem Chihuahua ein herausquellendes Kissen erwärmter Luft und der Geruch von Tee mit Bergamottöl entgegen.
Hanna Glowatz hält kurz bei der heutigen Poststelle, gegenüber vom Molli-Bahnhof, auf der Straße, direkt vor dem Eingang, huscht die halbe Treppe hinauf, kehrt mit Briefmarken sowie einem sonnabendlich erscheinenden Nachrichtenmagazin, von dem außerhalb der Saison zwei Exemplare ausliegen, zurück und fährt Richtung Strandpromenade zu einem Heißgetränk. Sie biegt ab in die Breitscheidstraße und rein in die Ostseeallee, den ehemaligen Bülow Weg. Alles für den Tourismus, wie die Straßenberuhigung der teilweise einbahnigen Strandstraße, die eine tatsächliche Verkehrsberuhigung ist und neben den Lustwandlern gleichfalls der Bevölkerung zugutekommt. Mit dem neuen Straßennamen lebt Hanna ausgezeichnet. Unaussprechlich besser mit der ›Poststraße‹ in Arendsee, das man früher hinter vorgehaltener Hand ›Aaronsee‹ nannte und mit Brunshaupten und Fulgen neunzehnhundertachtunddreißig unter dem frischen Namen Kühlungsborn zur Gemeinde zusammengelegt und ein Jahr später zur Stadt erklärt wurde. Mit dem Badetourismus hatten zunehmend mehr Berliner Bürger jüdischen Glaubens Interesse, sich zur Sommerfrische in Arendsee aufzuhalten. Erste Zeichen von dauerhafter Ansiedlung über einen Ferien- oder Alterssitz hinaus und der beginnende Austausch Kulturschaffender wurden frühzeitig, vor der formalen Arisierung durch Badeverbote gegen Juden, unterbunden.
Sie fährt an zwei zirka siebzehn Meter hohen Bäumen, einer Blutbuche und einer Kastanie vorbei, die, getrennt durch einen Zaun, derart dicht beieinanderstehen, dass ihre einander zugewandten Äste verkümmert sind und sie scheinbar eine gemeinsame, geteilte Krone bilden. Die Buche steht tiefrot östlich, die Edelkastanie in kraftvollem Grün westlich vom Zaun, der eine Markierung und kein Hindernis zwischen den beiden Buchengewächsen ist.
›Straßennamen erzählen Geschichte, wenn man nicht in der Vogel- oder Gehölzsiedlung unterwegs ist‹, denkt Hanna, als ein blauer Kombi ihr entgegenkommt und der Fahrer zum Gruß, bei versteinertem, eindeutig dümmlichen Gesichtsausdruck, die Hand kurz vom Lenkrad lüpft. Sie erwidert die Geste in gleichem, exaltiert gefrosteten Überschwang.
„Scheiß Nazi“, sagt sie schnaubend, und nur ihr Nüstern bläht sich, gefolgt von einer stärkeren Durchblutung. „Dein Vater war schon ein Nazi. Euch hätte es gefallen, wenn die Poststraße nach wie vor ›Adolf-Hitler-Straße‹ heißen würde.“
Sie stellt ihr Fahrzeug illegal neben den direkt an der Strandpromenade befindlichen Behindertenstellplätzen auf einer vermeintlichen Nebenfläche ab, hüpft aus ihrem Gefährt und eilt, getrieben von einer winterstürmischen Sehnsucht, die, trotz inhaltlicher Veränderung, bei ihr zeitlebens nicht zur Routine verkommen ist, zum Meer.Sieben Damen auf der Hand
„Null!?“
„Ich bin weg! Spiel!“
„Jetzt spielt er schon wieder!“, sagt ein Landwirt in den Fünfzigern ohne einen Anflug von leidgebeutelter Erregung. „Wo waren wir?“
„Bei null“, antwortet Steffen mit weiterhin gesenktem Blick. „Das ist nicht nichts.“
„Auch das noch!“
Für norddeutsche Verhältnisse erreichen die Emotionen auf eine irreführend tiefgründige Art in der sorglos abtastenden Frühphase des Spiels, beim Reizen, einen Höhenflug, der einen Defibrillator missen lässt – wenn dem Urteil pulsarmer Gleichmut und nicht das Quellen mediterraner Streitkultur, die sich hierher selten verirrt, zugrunde liegt.
Wie jeden Samstag um vierzehn Uhr sitzen die zwei Ehemänner auf der in die Jahre gekommenen, dunkelbraun lackierten Eckbank mit den dünnen, haltlosen Sitzkissen und Steffen, der Längste, auf einem der raumseitigen Holzstühle mit der balusterhaft aufgelösten Rückenlehne, im Gasthof am Fuße der Kühlung. Wer den Raum seit Jahrzehnten kennt, wittert die Patina aus Rauch und Erinnerungen, die nur oberflächlich gesäubert, begradigt und überstrichen wurde. Es ist nahezu menschenleer – in der Region – und im Gastraum, der dreieinhalb Kilometer entfernt von den im Sommer eindrucksvoll belebten Strandabschnitten des Ostseebads Kühlungsborn ist, wo die Stube ihre Insassen vor dem Winter schützt. Der Wind pfeift in einschneidender Kälte um das bescheidene Haus, als seien alle Verhandlungen auf das Konservieren von Restwärme endgültig gescheitert. Er sucht Schwachstellen und zieht die Wärme raus, sobald sich die Tür öffnet. Die Fluktuation ist nahe null und der Raum ist stark beheizt. Gerd, der großgewachsene, kräftig gebaute Landwirt, befreit sich im Sitzen von seinem dicken, dunkelblauen Pullover, der wegen des Reißverschlusses im oberen Bereich geschlossen als Rollkragen oder offen, mit breitem Revers getragen werden kann, über den graumelierten Kopf mit dem slawisch-kantigen Gesicht und legt diesen neben sich auf die Bank.
Gerds Telefon klingelt mit einem Ton von der Stange. „Entschuldigt, mein Steuerberater. Ich geh‘ kurz ran.“ Er steht auf und bewegt sich in den Flur, wo einst der Zigarettenautomat stand und einige Jagdtrophäen bewundert werden konnten, während man auf dem Weg zur Toilette oder zum Lager war.
„Moin Peter.“ … „Sicher bin ich noch dein Mandant.“ … „Ich habe keinen Schimmer. Diesen Sommer muss es geregelt sein.“ … „Ja, ums Verrecken hänge ich an dieser Ernte. Was Corona mit den Urlaubsgästen gemacht hatte, macht ein Pilz oder was auch immer mit meinen Pflanzen. Auch bei mir kommt die Hauptsaison, ohne dass ich ernstzunehmende Einkünfte in der Nebensaison hätte.“ … „Belasten? Wie oft soll ich dir das noch sagen?“ … „Ich weiß, aber der Günstigste bist du beileibe nicht.“ … „Wert sein kann einem nur etwas, das man hat oder sich leisten kann.“ … „Du, ich hab gerade einen Termin. Wir schnacken.“ …. Gerd legt auf und kehrt an den Tisch zurück.
„Und? – Will er Geld?“
„Was sonst? Er nennt es Mandantenpflege, ich nenne es Blutsaugen. Als hätte ich Bratensoße in den Adern. Ausgerechnet jetzt, wo noch alles ruhig sein sollte, nervt der mich.“
Vorsaison bedeutet Stille. Der Sommer, die Haupturlaubszeit an der Ostseeküste, ist unweigerlich aber mit nicht bekannter Schlagkraft im Anmarsch; die Vorboten lassen auf sich warten.