NEUERSCHEINUNG
Marc Krautwedel
Brunshaupten
Roman
Leseprobe
Schrifteinstellung
„Dreiundsiebzig. Komm, Lenni!“
Hundekalt beißt der Wind mit Wellen feinster Nadelstiche in die sich ihm feilbietenden, nackten und dürftig behaarten Oberflächen zweier
73
„Dreiundsiebzig. Komm, Lenni!“
Hundekalt beißt der Wind mit Wellen feinster Nadelstiche in die sich ihm feilbietenden, nackten und dürftig behaarten Oberflächen zweier Persönlichkeiten, die in Anmut und Mentalität verschiedener nicht sein könnten, deren selbstverständliches Bestreben der wesenseigenen Annäherung von gegenseitiger Achtung gestützt ist.
„Denk nicht daran, draußen zu bleiben“, sie tätschelt ihn. „Du mexikanische Fledermaus hast zu dünnes Fell.“
Die Mittagssonne dringt bodentief in den zu dieser Jahreszeit unbelaubten Stadtwald vom Ostseebad Kühlungsborn, lässt den über dem Dickicht liegenden, seidenweichen Nebel erstrahlen und die hochgewachsenen, betagten Buchen und Ahorne erscheinen bei in Watte verstecktem Unterwuchs wie einzelne, in nobler Zurückhaltung schweigende Zeugen der Zeit. Ein aufgeforstetes Stück Kulturlandschaft, von Achsen durchzogen, dessen Beschränktheit für diejenigen, die nicht von seinen Beständen leben, in nichts anderem auffällig ist als in dem Willen der Besucher, ihn beizeiten wieder zu verlassen, um sich neuen Umgebungen zuzuwenden.
Lennis Frauchen kommt mit ihm von einigen der vor über hundert Jahren in den Wald geschlagenen, angelegten ›Spaziergänge‹. Die Wege waren genehmigt, die Momente außerhalb des Badeerlebnisses der Erholung und Erbauung suchenden Urlauber auf das Angenehmste zu bereichern. Auf dem Rückweg von einer anderen Mission sind Lenni und Helga auf den letzten Metern des Gehwegs bis zu der, gleich dem Zaun wegen des Hundes mit grün ummanteltem Kaninchendraht durchschlupfsicher verkleideten, flachen Gartentür des Vorgartens ihres Hauses in der Strandstraße. Sie bewegt sich achtsam bis zum Ziel, dem höchsten Punkt der Straße, gegenüber dem ehemaligen Kaiserliches Postamt. Schnee- und Eisplacken, die Schrecksekunden auslösen, sind seit zwei Monaten Geschichte. Die großformatigen Gehwegplatten bleiben frei von Hindernissen. Es sind ihre eigenen Lageeigenschaften, die mancherorts die Aufmerksamkeit fordern. Die prachtvollen, mittelgroßen Straßenbäume, die die uralten, radikal rasierten und in einigen Wochen erneut frisch austreibenden Linden ergänzen, verleihen dem Gehweg erhöhte Ausdruckskraft, indem sie über ihren klimatisch-ästhetischen Beitrag und das Schattenspenden hinaus eine neue Facette der Teilnahme zeigen. Mit ihren Wurzeln positionieren sie die Platten, die in ihre Fänge geraten, im Abbild ihrer Vitalität. Minimale Abweichungen animieren die Passanten, sich nicht schlurfend fortzubewegen. Die ältliche Dame Ende achtzig zwingt sich täglich bei jedem Schritt der risikogemäßen Würdigung der einzelnen Platten.
„Moin Helga. Dreiundsiebzig? Du zählst? Ist ein büschn früh“, ruft eine zänkische Stimme aus einem cabrioartigen, roten Leichtfahrzeug geringer Größe und Sitzhöhe mit dünner Offroadbereifung sowie unbedachter, armlanger, in Holz eingefasster Ladefläche. Lautlos, folgerichtig unbemerkt, kommt es in der Einfahrt zum Stehen. Darin sitzt eine abholend lachende Frau, deren Gesicht und Habitus mit einem von Feuer flankierten Blick frischer sind, als es das Geburtsdatum auf ihrem Personalausweis zum Ausdruck bringt.
Die Gerufene bleibt weiterhin gebeugt, dem Tier zugewandt, der Kopf mit dem kurzen grauen Haar im schwer auf den Schultern liegenden, dunkelblauen Filzmantel verborgen.
„Früh? Für wen? Bist du aus dem Bett gefallen? Oder sprichst du von der Jahreszeit?“
„Was denkst du?“
„Ich zähle aus Gewohnheit. Langes Anstehen an der Kasse im Supermarkt ist nicht mehr meine Sache. Die KONSUM-Zeiten sind vorbei. Beim Warten rennen mir die letzten wachen Momente davon“, murmelt sie selbsterklärend in Richtung ihres vor ihr sitzenden Hundes, der, entgegen seiner üblichen Praxis nicht bellt, in Erregung herumläuft und den Eindringling – Freund oder fremd – inspiziert. „Warum schreist du? Ich bin alt, nicht taub“, zickt sie, direkt adressiert, in gleicher, pulsarmer Streitbarkeit. Sie richtet sich auf, dreht sich um und sieht die Person, die auf dem kleingebauten Gefährt in ihrer seit Jahren ungenutzten und moosüberwucherten Einfahrt steht, mit dem Ausdruck erhabener Missbilligung an.
„Moin Hanna. Was willst du mit dem französischen Spielzeug in der Stadt, im Winter, weit weg von zuhause?“
„Für die sechs Kilometer ist es nicht nötig, mit Jean an die Steckdose zu fahren. Ich käme bis nach Rostock und zurück.“
„Das ist kein Hund auf der Gassirunde zum Entladen. Da haben wir es wieder. Welche Oma fährt mit einer Seifenkiste durch die Gegend, die aus dem Kinderland oder vom Golfplatz ausgebüxt ist, spricht von dem Teil, als sei es ein Köter, und benennt es nach einem Propheten? In Französisch. Du warst immer anders. Ich verstehe das nicht. Wir sind von den ganz alten Familien, die schon da waren, bevor die ersten Urlauber herzogen. Sag Trixi, dass ihr Opa ein Held war – und breitschultrig. Bei ihr merkt man nichts davon“, meckert Helga Finow, die Augen gerichtet auf Hanna Glowatz, bewegt sich mit dem Verschleiß der Jahre in den Knochen auf sie zu und schlägt mit ihrem Gehstock wiederholt zeigend gegen einen Reifen des Fahrzeugs.
Die angefrotzelte fünffache Großmutter stutzt kurz, lacht anerkennend, schüttelt den Kopf mit ihrem grau-brünetten Haar, das deutlich über Schulterlänge im Einzelnen dünn, in Gesamtheit füllig unter der gewachsten Baseball-Kappe hervorquillt, zeigt auf den Stock und weist mit der sich öffnenden Hand präsentierend auf die bissfest angreifende, in letzter Zeit an Rüstigkeit nachlassende Tante einer ihrer ehemaligen Schulfreundinnen. Sie kennen sich seit Hannas Kindheit und sind einander vertraut, gar zugeneigt wie Geschwister, begleitet von einer ungeahnten und sorgsam kaschierten Altersmilde. Dem Zuspruch vorangestellt liegen formale Elemente, die ausreichen, jemanden, der die Region nicht kennt, zu düpieren oder zu verschrecken, was die beiden nicht bewegen würde, ihren Stil zu wechseln. Nicht zu kommentieren ist ein Zugeständnis, das den Eindruck norddeutscher Art der fehlenden Beredsamkeit erweckt. Der Altersunterschied zwischen Helga und Hanna spielt keine Rolle. Jenseits der sechzig Jahre relativieren sich Differenzen zu Banalitäten und der Lebensfortschritt ist an der jeweiligen Tagesform auszumachen. Das betraf bisher zumeist die körperlichen Gebrechen. Zunehmend beeinträchtigen kleinere kognitive Aussetzer die Gespräche, wobei es zahlreiche inhaltlich versprengte Schlaglöcher mehr erfordert, um einer hinreichend tragfähigen Kommunikation hinderlich zu sein. Helgas Verschleißvorsprung zeigt sich an manchen Tagen deutlich, was Hanna nicht zu einer allgemeinen Beißhemmung veranlasst.
„Ach, Uroma hat von Kraft geträumt, weil du den Winter ohne Beinbruch überstanden hast? Verständlich. Und lass Jean in Ruhe. Johannes ist der Schutzpatron der Bauern. Oder forderst du seinen nachgeahmten Kühlergrill, Salome?“
„Tüddelkram. Hast du dir vorgenommen, mich zu nerven? Mach nur weiter, bald bin ich wech; eingegangen wie euer Gestrüpp. – Ihr lebt vom Sanddorn. Nicht dass ihr alle bei mir einzieht, weil euch die Luft am Ende ausgeht und dein Schwiegersohn den Hof aufs Spiel setzt, nochmal.“
„Ach, sagt man das? Worauf wartet ihr? Gibt es nichts zu tratschen? Wie kommst du darauf, dass Gerd jemals den Hof gefährdet hätte? Blödsinn. Eure selbstlose Sorge ist Langeweile. Ist wenig los außerhalb der Saison. Ihr seid Restbestände einheimischer Märchenerzähler. Nur über deine kalte, erstarrte Leiche ziehen wir bei dir ein.“
„Mein Reden. Du schreckst mich nicht. Vergiss es, ich bleibe. Frauen sind zäher. Sie jammern nicht, sie streiten. Das sind keine Märchen. Du bist genauso hier zur Welt gekommen.“ Ihr rundes, vom eisigen Wind errötetes Gesicht fällt in dem Moment an den Wangen ein, als sie die Augenbrauen zusammenzieht und den Mund einen Spalt öffnet. Kleinste Nebelwolken vor ihren Lippen zeugen von einer flachen, schwerfälligen Atmung, die vor dem Rhythmuswechsel stockt. „Hanna, ich sabbel nicht. Das ist ein echtes Problem. Ihr müsst dringend was unternehmen. Eure Pflanzungen sind trocken. Die brennen im Sommer wie Zunder. Da ist kein Tropfen Saft mehr im Geäst. Euer Gestrüpp steht wertlos rum und fackelt uns am Ende den Wald mit ab.“
Sanddorn ist eines der Reizthemen von Helga. Ihre Familie hatte seit den späten Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts im Zuge der Sortenoptimierung in einer landwirtschaftlichen Produktionsgemeinschaft am Erfolg der goldenen Beeren mitgewirkt. Die Direktiven kamen aus Berlin; die Hochleistungssorten ebenso.
„Kleinkram. Ich erledige das nebenbei“, antwortet Hanna monoton. „Wozu die Fachleute? Warum Panik? Existenzen? Egal, ich mach das. Ernsthaft, Helga, kein Grund zur Sorge. Wir haben wegen des miserablen Geschäfts bei fehlenden Touristen in den Corona-Jahren einen hohen Lagerbestand.“
„Was auf den Tisch kommt, ist entscheidend, nicht wie es ankommt oder verpackt ist. Wenn eure Speisekammer leer ist, gibt es nichts zu essen. Da ist egal, wie sie gekühlt ist. Ihr müsst was tun. Das ist nicht wie früher. Ihr habt keine sieben Jahre, einen bestellten Trabbi zusammenzusparen. Davon zwei aufs Rauchen und auf Obst zu verzichten bringt euch nicht aus dem Schlamassel. Das geht nicht irgendwie weiter. Ihr könntet den Hof verlieren, was man so sagt.“
„Ihr habt keine Ahnung. Die Ware stapelt sich bis zur Decke, in allen haltbaren Varianten. Vom Öl, Seife bis abgefülltem Nektar und Trockenkonzentrat. Überstanden haben wir es trotz der geringen Verkäufe.“ Hanna nickt abschließend und zieht das Bein, das bereits außerhalb des türlosen Gefährtes war, zurück in den Fußraum. Sie trägt eine für ihr Alter unziemlich moderne Jeans und die schattenmorellenroten Arbeitsschuhe, die wie Springerstiefel aussehen und neben Gas- und Bremspedal glänzen.
„Dein Wort. Und nu? Was habt ihr vor?“
„Die Urlauber kommen wieder zurück. Produkte aus Sanddorn sind gefragt bei Gästen. Mit dem, was verarbeitet ist, stopfen wir die Löcher der kommenden Ernteausfälle. Drei, vier Jahre sind Zeit, mit zurückgehenden Erträgen über die Runden zu kommen.“ Sie streckt sich ungewohnt raumgreifend und nickt zustimmend ihrer eigenen Ausführung.
„Wenn das mal reicht.“
„Helga, ich bin ja auch noch da.“ Hanna sieht munter auffordernd zu ihrer Freundin. „Ich fahr ans Meer; auf einen Cappuccino. Springt rein, ihr beiden Langweiler.“
„Nee, lass gut sein. Mir ist kalt, egal was ich anhabe. Das ist das Wetter zum Eindrömeln und Fernsehen.“
„Wem sagst du das? Ich bin dieser Tage genauso froh, wenn ich wieder im Haus bin.“
„Du hast die falsche Karre.“
„Gemächlich und Kurzstrecke. Andere fahren Rad. Mit dem Leichtgewicht bin ich eine geringere Gefahr und es hält mich frisch, ohne zu belasten. Gestern Abend stand bei mir genauso das Faulenzen auf dem Zettel. Es lief ein richtig netter Film. Darauf muss man erst mal kommen.“
„Worum ging es?“
„Amerikanisch. Letzte Wünsche von zwei alten Männern, die nicht mehr lange haben und die …“
„Wunschzettel. Die Liste, die sie abhaken. Kenn ich. Der ist freundlich. Wunderbare Schauspieler.“ Helga hält inne, sieht zum Stadtwald und betrachtet einzelne der prachtvollen, sie an Lenzen übertreffenden, derzeit blattlosen Bäume. „Die beiden Knacker hatten zumindest eine Ahnung, was ihnen an Zeit bleiben würde, um auf den Putz zu hauen. Obwohl – ich würde es nicht wissen wollen. Schnell und überraschend, am besten im Schlaf wäre mir am liebsten, wenn man sich das aussuchen könnte. Es passiert und kommt ungelegen. Wie Schwangerschaft. Es passt nie. Beim Sterben ist es besser als andersrum. Wer darauf wartet, ist bis auf die wenigen wissend und erhaben Lächelnden, die einem schon zu Lebzeiten auf den Keks gehen, gekniffen. Da scheint das Leid in Körper und Geist zu heftig zum Überleben zu sein. Schiete ist keine Geburtstagstorte und das Leben den ganzen Tag über alles andere als ein Wunschkonzert.“
„Helga, ein Spiel, weil du gerne von deinem Ableben redest. Angenommen, du wüsstest, dass du die letzten zwei Wochen auf der Uhr hättest, bis unverhandelbar Schluss wäre; welche drei realistisch erfüllbaren Träume würdest du dir vor dem Abgang erfüllen wollen?“
NEUERSCHEINUNG
Marc Krautwedel
Brunshaupten
Roman
Facebook
LinkedIn
„Es stört mich nicht, wenn du brennst.“
Autor: Marc Krautwedel, Kühlungsborn
„Wichtig ist, was auf den Tisch kommt“ – ist nur eine von etlichen Weisheiten der Menschen im Roman, die redlich bemüht sind, feste Punkte in Zeiten der Veränderung nicht aus den Augen zu verlieren. Sechs Monate einer Familie und ihren Bekannten, die mir ans Herz gewachsen sind – ohne wirklich jeden/jede von ihnen fraglos umarmen zu wollen. – Ach, was soll’s?
Hanna, ihre Töchter Sandy und Trixi sowie ihre fünf volljährigen Enkelkinder erfahren spät, dass ihr Schwiegersohn weit mehr Probleme hat als das Sanddornsterben auf dem Obsthof der Familie in Kühlungsborn. Die Existenz ist bedroht und alle packen mit an. Generationen treffen aufeinander in einer Landschaft, deren Schönheit zum Innehalten einlädt.
Es ist eine Familiengeschichte über sechs Monate mit den kleineren und größeren Gefühlen und Erlebnissen in einer ländlichen, aber dem Tourismus zugewandten Region.
»Es ist der Wandel, nicht der Wechsel.«
Bestellungen aus der Erstauflage auf Wunsch signiert.
456 Seiten. Fester Einband, Überzug: Softtouch, runder Rücken, Fadenheftung, Leseband; Papier: Cremeweiß. Versandkostenfrei in DE.
Erstauflage: Lieferung in der Woche vom 18. November
€ 22,40 inkl. MwSt.
Erstauflage bislang nicht im Buchhandel erhältlich.
Auch für unsere E-Books
sind .epub-Reader, zum Beispiel kostenlose Apps, erforderlich. Testen Sie es auf Ihrem Endgerät.Download mit der Schaltfläche.
Leseprobe E-Book, Epub