NEUERSCHEINUNG
Nehmen Sie Jesus! Der ist billiger.
Lebenssplitter von Elisabeth –Elli – Mayer
Leseprobe
Schrifteinstellung
„Dreiundsiebzig. Komm, Lenni!“
Hundekalt beißt der Wind mit Wellen feinster Nadelstiche in die sich ihm feilbietenden, nackten und dürftig behaarten Oberflächen zweier
Man könnte den Inhalt dieser Geschichte in minimalistisch, faktisch auskömmlichen Worten schildern und sie wäre gleich und wahr: Weihnachtsbaum hat einen zu großen Stammdurchmesser für den einzig verfügbaren Ständer; mit Säge kürzen; Baum passt! Weihnachten kann kommen; „Tschüss, ich habe einen Termin“.
Das geht zwar, und an dieser Stelle stürze ich mich nicht betroffen in den Versuch eines Vergleiches mit Geschichten und Tragödien epischen Ausmaßes, die, inhaltsschwer Gestalt und Ausdruck von Blockbustern und Herzkino liefern. In der Wiederholung und ungeahnter Steigerung von Stressgrenzgängen stehen bei der externen Beobachtung Bilderwelten eines Slapsticks mit der Reihung festlicher Missgeschicke amerikanischer Vorbilder Tür und Tor auskömmlich geöffnet. Es wäre maßlos übertrieben, zu behaupten, dass mir alles in einer Festsaison passiert ist. Eigentümlicherweise war es gleichfalls nicht vornehm verteilt oder in Leistungsblöcke mit Belohnung, zumindest lohnenden Pausen gegliedert – in der gesamten Legislaturperiode, dem von mir fälschlich angenommen befristeten Zeitrahmen der Kindesaufzucht. Bestimmte Arrangements, die in den einzelnen Lebensphasen interne und externe Reaktionen zu begünstigen schienen, nahmen sich ihre Räume nach eigenen Gesetzen. In erfahrener Rückbetrachtung wäre es müßig, präventiv gegen neue Überraschungen vorzugehen, weil sich die Beteiligtenstruktur und die Art des allgemeinen Umgangs ständig verändert hatten. In der Schilderung der Vorfälle und ihrer persönlichen und familiären Einordnung aber genauso ihrer stadt- oder landräumlichen Zuordnung entscheiden mehr die Nuancen und der „Geist“ der Weihnachtszeit, die eine akkurate ›Nichts passiert!‹-Beweisführung vom Horror eines zum falschen Zeitpunkt angegriffenen Nervenkostüms abgrenzen. Prioritäten bestimmen mein Handeln zuweilen deutlicher, als mir lieb ist. Untergeordnete beziehungsweise nachrangige Aufgaben, Träume und Ereignisse verlieren sich zu oft im Tunnelblick und den Aufwendungen für die als vorrangig bewerteten Angelegenheiten. Kaum überraschend, dass ich damit nicht allein auf weiter Flur stehe und es Interessenskonflikte geben kann. Um ein Zusammenleben erst zu ermöglichen und gemeinsame Prämissen zu definieren, ist die konsensorientierte Kommunikation nicht die schlechteste, vernunftorientierte Lösung. Mit einigen Jahren Ehe in den Knochen weicht diese meiner Meinung nach unumstößlich richtige Herangehensweise jenem Pragmatismus, der expressiv in Momenten logistischer Herausforderungen durchaus seine Berechtigung auszuspielen vermag. Es gibt ungewollte Gelegenheiten, die fordern eilige, in Randlagen der Durchführungswahrscheinlichkeit innerhalb von Zeit- und Verfügbarkeitsfenstern, sogar übereifrige Entscheidungen. Wenn die Festtage vor der Tür stehen und Termindruck besteht, sind Angelegenheiten trotz vermeintlich vorrangiger Tragweite von besinnlicher Einkehr anders zu bewerten – als eine fundamental richtungsweisende Festlegung für oder gegen eine der letzten, nun angehäuften, mittlerweile harthäutigen und schrumpeligen Bratwürste auf dem abendlichen Weihnachtsmarkt. Sie erkalten da unterhalb von sechzig Grad, während ich mich allen Ernstes hinterfrage, ob der Drang an den Stand in Appetit, einer nostalgischen Erinnerung oder dem Forcieren von Festtagsgefühlen begründet ist. Vielleicht ist der Weg, die letzte Runde mit dem Hund durch die Kleinstadt zu dieser Zeit automatisch von einem nicht zu verteufelnden Verlangen nach identitätsstiftenden Reizen geprägt. Im Dezember lasse ich mir das gerne gefallen und werde bereitwillig Opfer meiner festlichen Stimmung. – Wenn man mitten im Wald wohnt und die einzige Straßenlaterne vereinsamt dreihundert Meter entfernt, an der Einmündung eines Sandweges in eine befestigte Straße steht und hinter Bäumen der dicht mit Kiefernmonokulturen bewaldeten Sandwälle der Endmoränen abseits des Elburstromtals nicht einmal den nächtlichen Hinweis auf Infrastruktur gibt, stellt sich die Gewissensfrage über die Bratwurst eher selten.
Zwei Tage vor Heiligabend wurde der kerzengerade und opulent gewachsene Baum von uns in das Wohnzimmer geschleppt, wo der gewaltige, gusseiserne Tannenbaumständer, der das ganze Jahr bisher im Keller sinnlos, daher nur herzlos wahrgenommen, fristete, bereitstand, seinem einzigen Bestimmungszweck an dem jährlich wiederkehrend selben Bestimmungsort nachzukommen. Der Baum hatte es in sich und er hatte es an sich. Gewicht kann gerade im Winter, bei Schmelz- oder Regenwasser zwischen den Tannennadeln ein nicht veritables Indiz über die tatsächlichen Dimensionen sein. Hier sind allein die Länge des gesamten Gebildes und die Dicke entscheidend. Die unteren, Äste senken sich bei Raumtemperatur. Bei dem gewählten Standort in einem Haus mit Pultdach in der Weite des Luftraums vor der Galerie darüber, schien die Baumlänge ein untergeordnetes Thema zu sein. Erfahrung und Besitzerstolz sind Wegbereiter des gehobenen Leichtsinns. Beim Hineintragen durch die großflächige Schiebetür wurde deutlich, dass er dieses Jahr in besonderem Maße üppig ausgefallen war. Ihn hatte ein Bauer aus dem Dorf, ein entfernter Verwandter von mir, ausgewählt, geschnitten und mit dem Traktor angekarrt. Mit der Verwandtschaft ist es eigentümlich auf dem Lande. In diesem Fall verhält es sich für Kleinkarierte und Zugereiste schwierig in der Besser-nicht-Wägbarkeit, dass der Verwandtschaftsgrad kaum mehr ohne Meinungsverschiedenheiten zu klären ist – oder sollte – auch weil es in den vielen Generationen vor unserer ab und an außereheliche Querschläger der Zeugung gab, die als Tatbestand – nicht in Person – ignoriert, geduldet, akzeptiert verschwiegen, zumeist aber belächelt wurden. Mein Verwandter – der Baumproduzent und -lieferant war nicht Pastor, Bäcker oder Lehrer. Er war nicht in Gemeinde-, Stadt- gar Kreisverwaltung, betrieb nicht das Farbengeschäft, den Krämerladen, Düngemittelhandel oder das Autohaus. Er ist Bauer und hatte den Baum für mich, den von mir durch Heirat angeschleppten, mit fünfzehn Kilometern Wohnsitzentfernung auswärtigen Kerl und meine einheimische Nachkommenschaft, wie üblich, ohne nachzufragen, ausgesucht und sich – das gebieten Anstand und Ehre – bezahlen lassen. Entweder waren bei ihm, dem Kenner des Aufstellungsortes und dessen Anforderungen die Augen größer, als der Zollstock relativieren konnte, oder er hatte den ›Schönsten‹ für mich zurückgelegt. Dass der attraktivste Baum gleichfalls immer der Gewaltigste ist, bedarf zumindest bei uns auf dem Dorf keiner weiteren Detailbetrachtung.
„Der is aber groß.“ Mir schwirrte neben den üblichen von Staunen geleiteten Beifallsfloskeln eine sofort unterdrückte Vorahnung durch die weihnachtliche Beschaulichkeit.
„Dat is de Best. Ik heff em di trüggleggt. De ännern hebbt em al in ’t Visier hatt. De glöövt noch ümmer, dat se hier to hauen sünd.“ Er zeigte bei seinem, ihm eigenen Überschwang tatsächlich schwungvoll, ausdrucksstark und vortrefflich lange gut sichtbar mit dem Arm in seiner stellenweise ausgeblichenen blauen Arbeitsjacke, die er über dem Pullover trug zu meinen Nachbarn. Diese waren aus Hamburg zugezogen, in ihr ebenfalls sogenanntes ›Architektenhaus‹ und vereinsamten trotz oder gerade wegen ihrer Bemühungen, im Dorf ein Bein an den Boden zu bekommen, was nicht für Geld und gute Worte umsetzbar war. Dabei hätte es einfach nur weniger erfordert, wenn man nicht einen Status einforderte. Rein nachbarschaftlich war das erneut ein Griff in die Kiste mit Unpässlichkeiten. Die Kinder waren in gleichem Alter, verstanden sich gut und nun raunte das feige Grollen im Wald, dass wir mal wieder, sogar in Abwesenheit, das Beste von irgendetwas abgegriffen hatten, womit sie bei Bekannten aus Hamburg auffallend rausgekommen wären. ›Großes Grundstück, Landleben, nicht unpersönlich, denn man kennt sich und es ist nur ein Katzensprung in die Kleinstadt zum Samstagsmarkt,…‹. Sie standen am Gartenzaun und beobachteten die Anlieferung.
Groß war er, der Baum. Mein Ehemann hatte wie üblich, Schwierigkeiten, sowohl empathisch als auch entspannt in sich ruhend in das zu kommen, was als Weihnachtsstimmung bezeichnet wird und im Idealfall mehr als das Siegerlächeln, dieses eine Mal nicht auf dem letzten Drücker Geschenke jagen zu müssen. Da bedeutet nicht, dass er nicht aufs Familienfest eingestellt war oder nicht bestens gelaunt gewesen wäre. Er hatte wie in etlichen Jahren zu dieser Zeit und an diesen Kalendertagen vor dem Jahreswechsel dringende Termine, bei denen er im Modus ›abschreibungsfähige Bauherrenmodelle‹ noch vor Jahresende einige Bauprojekte zu platzieren hatte. Das war damals normal und jedes Jahr so. Die Bauherren kannten sich alle bereits so lange, dass sie tatsächlich mehr privat getratscht hatten, als sich in bereits erfolgte Investitionsabwägungen erneut zu ergießen. Es ging um den Wunsch einer Tochter nach einem Pony, dem kommenden Urlaub, bevorstehende Ankündigungen von Neufahrzeugen, Tennis – eben um die wichtigen Dinge im Leben, die eine Herrenrunde zu einer unvergleichlich gewichtigeren Gesprächssituation erhebt als eine angeblich tratschende Frauenrunde. Gut, wir hatten nicht wie sie den Notar gleich ebenfalls in unserer Freundesrunde. Sie trafen sich dann in einer typisch kleinstädtischen Pizzeria, die sich trotz Fachwerk mit allerlei Putten und Balustraden einen weißen, porenbetoniert mediterranen Touch zauberte. Dort teilten die allesamt Männer und Macher die Einheiten der Vorhaben unter sich auf. Größere Projekte haben sie gemeinsam gestemmt. Kleinere Reihenhauszeilen im neunorddeutschen Landhausstil mit Sprossenfenstern und weißen Nut und Feder-Unterschlägen waren der Renner. Das gemeinschaftliche Beenden der operativen Handlungen in der Pizzeria in der Kleinstadt war zu einer vorweihnachtlichen Tradition gereift, die ausschließlich mit dem fiskalischen Kalender zu tun hatte und nichts mit Bethlehem.
Der Termin stand – der Baum nicht. Er war untenrum zu dick, um in der gespreizten, gusseisernen Auffangstation für einzelne, ermordete Nordmanntannen zu passen. Darüber hinaus war er insgesamt zu breit für den vertrauten Platz, den ich vorgesehen und freigeräumt hatte. Er war allem Eigenheimstolz modernen Wohnens zum Trotz sogar zu aufgereckt, als dass er an dieser eigentlich luftigen Stelle hätte stehen können, ohne dass die Spitze sich unter der Decke böge. Ein Dilemma. – In der Sache und im Zeitplan. Ich hatte als sorgende Ehefrau natürlich im Hinterkopf, dass mein Ehemann es eilig hatte, was mir generell nicht behagte, wenn er bei dem Schnee-Schmuddelwetter, das an diesem Tag war, durch den Wald und zwanzig Kilometer über Land- und Dorfstraßen düste. Bevor ich thematisch ansatzweise in die Nähe einer Chance gelangte, diese reale Problematik ansprechen zu können, um das Für und Wider von Lösungsansätzen bezogen auf das Timing, einer temporären Option, bis hin zur Vorbereitung einer gespielten Gelassenheit, etwas Unfertiges, Nasses einfach im Raum unbearbeitet zu belassen, im Diskurs zu eruieren, – war mein Göttergatte weg. Innerhalb einer gefühlten Sekunde, die es dauerte, den offen erstarrten Mund wieder zu schließen, bevor er sich aus frischen Anlässen erneut öffnen sollte, war er zurück aus der Garage. In seiner einen Hand hielt er einen Problemlöser aufdringlichster Güte, der jede Diskussion im Keim erstickte – eine Kettensäge mit einer Blattlänge, die weniger an deutsche Gärten als an kanadische Forstwirtschaft erinnerte. Mit der anderen, genauso von Schutzbekleidung verwaisten Hand trug er einen schwarzen Kanister mit gelbem Verschlussdeckel und ebensolchem Einfüllstutzen, der an einem Haltering daran baumelte. In ungewohnt wortlos routinierter Art begann der aktuell entschlussfreudigere Teil unserer Ehe, auf dem Wohnzimmerteppich, sein bei zahlreichen Außeneinsätzen im Garten, genauso wie davor dem Hausbau lieb gewonnenes Spielzeug zu betanken. Mein Ehemann bot einen eigentümlichen Anblick. Einerseits liebte ich ihn besonders für das maskuline Anpacken und Hindernisse jeder Art zu beseitigen, was dann im Ergebnis emotionale Schneisen der Verwüstung in einer dystopischen Illusionslosigkeit hinterließ –und die selbstkritische Frage, warum man selbst ein Thema – vermeintlich lösungsorientiert – bloß gewagt hatte anzusprechen, ohne sich der möglichen Folgen gewahr zu sein. Damals war das Wort ›dystopisch‹ zumindest mir nicht bekannt und Endzeitstimmungen wurden näherliegend apokalyptisch dimensioniert und inszeniert. In den von meinem Mann verursachten Verwüstungen steckte zugleich auch ein Neuanfang. Es Schöpfung zu nennen, ginge zu weit. Es war eher eine Flurbereinigung, eine Beräumung – als Einladung entfernt interpretierbar. Trotz erneut geschüttelter Begeisterung für das Männliche, das Beschützende, vermisste ich in denselben Momenten das Schöngeistige an ihm, das er allein im strategisch-manipulativen Repertoire zu nutzen wusste, als dass er darauf gekommen wäre, eine Aufnahme des Weihnachtsoratoriums samt unbekannter Art betriebenen Abspielgerätes als kulturellen Genuss, Rückhalt oder Manifestation mit auf eine einsame Insel zu nehmen. Er sah gut aus mit seiner Kettensäge. – Und elegant in seinem dunkelgrauen Zweireiher-Anzug aus italienischer Fertigung, dem dunkelblauen Hemd und der kreativbunten Krawatte der Achtziger. – Es waren die Achtzigerjahre. Bevor ich mit ihm über Art und Maß der durchzuführenden Bearbeitung des Baumes sprechen konnte, ohne eine nutzbare Gelegenheit ergreifen zu können, auf Kollateralschäden in dem blitzblank geputzten und auf das Festlichste dekorierten Haus hinzuweisen, schmiss er mit einem Riss an dem Starterseil die Motorsäge an. Den Lärm kannte ich – von draußen – ausgehörigem Abstand und nicht inmitten eines hallenartigen Privatzimmers mit schallreflektierenden harten Fenstern, Wänden und Decken. Er ließ sie eine Weile aufheulen, dann knattern. Es dauerte etwas, bis sich das Geräusch harmonisierte – in sich runder lief und nicht bezogen auf eine schwer vorstellbare Annäherung an die Weihnachtsstimmung. Das Maschinchen spuckte satten blau-schwarzen, stinkenden Dunst bis es die richtige Temperatur hatte und die Brennkammer frei von Restbeständen war und das Gemisch wie vorgesehen verbrannte – in meinem Wohnzimmer. Ich weiß, ich bin kleinlich, aber Zweitakt-Verbrennungsmotoren ohne eigene Entrauchung stehen bei mir ganz unten auf der Liste möglicher Einrichtungsgegenstände und Haushaltsgeräte. Mein Mann ließ sein Schwert noch eine Weile im Standgas knattern und machte dann sich mit einer Zigarette im Mundwinkel daran, die unterste Reihe mit den großen Ästen abzusägen, um daraufhin den Stamm zu kürzen. Das dauerte nur wenige Sekunden und hatte auf seltsam abstrakte Weise etwas Weihnachtliches: Wie ein peitschend hartes, gelbliches Schneegestöber flogen Unmengen von groben und feinen Flocken aus Sägespänen durch den Raum und behinderten die Sicht. In dem freien Grundriss, wo Küche, Esszimmer, Eingangsbereich und das in nur funktional in Bereiche getrennte Wohnzimmer gab es für sie kaum Hindernisse, sich in ihrer Reiseplanung frei zu entfalten. Mein Ehemann stoppte den Motor, legte die Säge auf den Teppich – an dieser Stelle war es ausgerechnet eine gewebte Brücke aus persischer Seide, steckte den schweren Ständer, as wäre er aus Pappmache, unten auf das liegende, zuvor mächtigere Sinnbild eines Wintermärchens, schraubte ihn fest und richtete das gute Stück mit einer Rissbewegung auf.
„Verdammt“. Er schmiss den Baum wieder um, riss den Ständer runter, sägte noch eine Scheibe vom Stamm und justierte die Schrauben der Baumhalterung diesmal so, dass das ›Biest‹, wie es derweil hieß, mit höherer Wahrscheinlichkeit neigungsarm stehen würde. Er stellte ›es‹ erneut auf, ohne das Ergebnis seiner Feinstarbeit final oder kritisch zu begutachten, sondern blickte auf die Armbanduhr, schüttelte sich die Späne aus dem festen, grob gewellten, längeren schwarzen Haar und streifte die Holzflocken von der Schulter. Sicherlich hatte er derer noch etliche im Hosenumschlag.
„Ich muss los“, sagte er, der gut gekleidete, unvorstellbare Göttergatte und verschwand in dem sich längst nicht verflüchtigten blauen Dunst.
Der Baum stand geschockt vor mir, als bräuchte er statt meiner Zuspruch oder gar einen Therapeuten. Es roch nach Benzin, Öl und Abgasen. Maschinen- und Schmieröl war auf dem Teppich und die Regale mit zweitausenddreihundert Büchern, die Schätze, die zu achtundneunzig Prozent ich statt meinem Mann gelesen hatte, waren voll mit Sägespänen, die in jede noch so abgewandte Ecke gekrabbelt zu sein schienen.
Auf der Suche nach Rückhalt in der Familie habe ich bei dem Sohn, aus dem nicht das erhoffte Leitbild an Respekt, Achtung und Rücksichtnahme geworden ist, auf Granit gebissen. Der sah Fernsehen, inmitten des Dunstes und der frischen Holzflocken. Er erhob sich nur kurz, während ich – als notwendiges, daher geduldetes Übel wahrgenommen – um ihn herumsaugte. Es dauerte Stunden, bis ich alles Feinholz aus den Regalen und sogar dem Videorekorder gepult hatte. Auch der Hund hatte Späne im Fell aufgesammelt.
Als mein Mann zurückkam, roch es nach Essen, die Kettensäge war mitsamt dem Kanister wieder in der Garage, die Ölflecken waren raus. Es blieb an den entsprechenden Stellen eine kurze Weile feucht von Waschbenzin, Nagellackentferner und der Nachreinigung mit Wasser. Der Hund war gebürstet und das Kind ignorant wie zuvor. Der Weihnachtsbaum, vielleicht war er trotz seiner Kürzung und der auch aus dem respektlosen Umgang herrührenden Betroffenheit der stattlichste Vertreter seiner Art und Funktion, den wir jemals hatten, leuchtete geschmückt in all seiner Feierlichkeit. Mein Mann war kein bisschen überrascht, sondern aß und erzählte in einnehmender und geselliger Laune von seinen Heldentaten des Tages – draußen, in der richtigen Welt. Die Sache mit der Kettensäge im Wohnzimmer war so normal für ihn, dass sie keinerlei Erwähnung fand. Der guten Ordnung halber sei erwähnt, dass ich die Umschläge seiner Anzughose am selben Abend von Holz befreite.
NEUERSCHEINUNG
Roman
„Es stört mich nicht, wenn du brennst.“
Autor: Marc Krautwedel, Kühlungsborn
„Wichtig ist, was auf den Tisch kommt“ – ist nur eine von etlichen Weisheiten der Menschen im Roman, die redlich bemüht sind, feste Punkte in Zeiten der Veränderung nicht aus den Augen zu verlieren. Sechs Monate einer Familie und ihren Bekannten, die mir ans Herz gewachsen sind – ohne wirklich jeden/jede von ihnen fraglos umarmen zu wollen. – Ach, was soll’s?
Hanna, ihre Töchter Sandy und Trixi sowie ihre fünf volljährigen Enkelkinder erfahren spät, dass ihr Schwiegersohn weit mehr Probleme hat als das Sanddornsterben auf dem Obsthof der Familie in Kühlungsborn. Die Existenz ist bedroht und alle packen mit an. Generationen treffen aufeinander in einer Landschaft, deren Schönheit zum Innehalten einlädt.
Es ist eine Familiengeschichte über sechs Monate mit den kleineren und größeren Gefühlen und Erlebnissen in einer ländlichen, aber dem Tourismus zugewandten Region.
»Es ist der Wandel, nicht der Wechsel.«
Bestellungen aus der Erstauflage auf Wunsch signiert.
456 Seiten. Fester Einband, Überzug: Softtouch, runder Rücken, Fadenheftung, Leseband; Papier: Cremeweiß. Versandkostenfrei in DE.
Erstauflage: Lieferung in der Woche vom 18. November
€ 22,40 inkl. MwSt.
Erstauflage bislang nicht im Buchhandel erhältlich.